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Zum Weimarer Rundfunk und seinem Programm
De Artikel, die sich in den ersten Ausgaben des NRF grundlegend mit dem Weimarer Rundfunk auseinandersetzen, sind gezeichnet durch die Faszination, die das neue Medium auf die Arbeiterfunkfreunde, aber auch auf die hier schreibenden linken Intellektuellen ausgeübt haben muß. Vor allem zeigen sich die Autoren beeindruckt von der durch die Radiotechnik entstehenden Möglichkeit, unbeschränkt viele Menschen an nahezu unbegrenzt vielen Orten schneller und eindrucksvoller als bisher erreichen zu können, wobei die kulturpolitische Bedeutung, die diesem "Nachrichtenmittel von unerhörter Tragweite und Schnelligkeit" als erstem sich etablierenden elektrischem Massenmedium zukommen sollte, in der Pegel zumindest erahnt wird. Wilhelm Hoffmann, dem ersten Vorsitzenden des ARKD gilt das Radio sogar als "Sonnenzeichen am Horizont des anbrechenden neuen Zeitalters". In seinem "Aufruf an das schaffende Volk" schreibt er:
"Eine neue Weltmacht ist im Anmarsch, im Eilschritt geht sie über die Erde. Bedeutsamer als die Zeitung, eindringlicher als das Kino kommt sie zu uns in das Haus. AllüberalIhin wie das Sonnenlicht dringt sie in die einsame Hütte des Waldarbeiters und zugleich tritt sie auch schon zwischen den Hochöfen in das Haus des Bergmanns ein. (…)"
Wenn das Zeitzeichen mittags, Tag für Tag von Nauen über die Erde gesandt und überall gehört wird, dann springt in uns die Vorstellung auf, als ob an der Grenzscheide von Raum und Zeit der unsichtbare Menschheitsgeist mit einem Griff den Erdball umfasse."
Vor dem Hintergrund solcher Faszination wird die Erfindung der Radiophonie, ebenso wie der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt generell, von den Autoren der Zeitschrift durchweg als "klassenlose Angelegenheit" verstanden. In seiner rein technischen Gestalt gilt innen das Radio als ein Verkehrsmittel, wie Eisenbahn, Flugzeug oder Telefon – als eine "technische Errungenschaft", die auf den Schultern einer ``mehr als zweitausendjährigen Denkschulung" entstanden sei und sowohl für das gesamte geistige Leben der Gesellschaft, als auch für die Völkerverständigung und den proletarischen Befreiungskampf "ungeheure Perspektiven" eröffnen könne. Als ganz und gar nicht klassenlose Angelegenheit gilt hingegen die hier als gesellschaftliche "Nutzanwendung" der Radiophonie begriffene Gestaltung des Weimarer Rundfunks, der statt einer "Einrichtung der Allgemeinheit" nur ein bloßes "Instrument der herrschenden Klasse’’ geworden sei:
"Tatsache ist, daß das Instrument gut ist, nicht aber seine Verwendung, wie das so geht in der kapitalistischen Welt, in der wir nun einmal leben. Das war schon mit der Erfindung des Schießpulvers so und ist bis heute so geblieben."
Die Kritik der Autoren der Zeitschrift richtet sich dabei in erster Linie gegen die Organisation des Weimarer Rundfunks, die das Medium, wie man feststellt, jeglichem Einfluß von Seiten der Arbeiterschaft entzieht, und dieser nur passiv, als Konsument von Gerät und Programm eine Teilhabe an diesem "mächtigsten Mittel zur Verbreitung von Mitteilungen (und) zur Aufrüttelung der Öffentlichkeit" gewährt:
"Tatsache ist, daß 80 % der Berliner Rundfunkhörer, nach den heutigen Teilnehmerzahlen also über 400.000, Angehörige des schaffenden Volkes, die von einer Programmgestaltung ausgeschlossen sind und damit in Opposition gedrängt werden. Dasselbe trifft, entsprechend der Bevölkerungsschichtung auch auf das ganze Reich zu."
Die "eminente politische Bedeutung" (21), die diesem Ausschluß der Arbeiterschaft von der Programmgestaltung zukommt, wird den Lesern der Zeitschrift in den Berichten Über die Nutzung des Rundfunks während des englischen Generalstreiks im Frühjahr 1926 drastisch vor Augen geführt: die Möglichkeit nämlich, einen so organisierten Rundfunk als staatliches Ordnungsinstrument einzusetzen. Zwar entsprach es keineswegs den Tatsachen, daß die zentrale, aber damals noch privat organisierte englische Radiogesellschaft BBC während des Streiks, wie zunächst die Rote Fahne und dann auch der NRF berichteten , von der britischen Regierung "beschlagnahmt" worden wäre. Durch die bloße Androhung einer solchen Maßnahme war es ihr jedoch tatsächlich gelungen, die BBC als "gewaltige Waffe", wie es im NRF hieß, gegen die Streikenden einzusetzen, um die Streikfront durch Verbreitung ‘guter Laune’ innerhalb der Bevölkerung und gezielte Falschmeldungen über ein angebliches ‘Abbröckeln’ des Streiks zu zermürben. "There is no doubt", so muß selbst der ansonsten eher moderate englische Rundfunkhistoriker Asa Briggs feststellen,
"(…) that BBC news assisted the government against the strikers. (…) No attempt was made (…) to depict the realities of working class life, the sence of solidarity, struggle, and occasional triumph which the strikers felt."
Diese Erfahrungen aus England kristallisieren in den Berichten des NRF zu einer grundlegenden Erkenntnis: "Der Rundfunk", so kommentiert die Zeitschrift,
"(…) ist ein Machtorgan, wie die Polizei, das Militär, das offizielle Regierungsorgan. Darüber kann kein Zweifel herrschen. Nicht ohne Schrecken denkt man, was Herr Braun (der Sendeleiter der Berliner Funkstunde; d.Verf.) bei uns in ähnlicher Lage durch’s Radio verkünden würde."
Die Auswirkungen des organisatorischen Ausschlusses der Arbeiterschaft von der Programmgestaltung zeigen sich für die Autoren des NRF allerdings nicht erst mit Blick nach England. Auch die Programme des Weimarer Rundfunks geben in ihren Augen deutliches Zeugnis von dem "krassen Mißbrauch, den die Bourgeoisie mit den Einrichtungen des Rundfunks für ihre Sondervorteile und zum Schaden des Proletariats betreibt." Schon in der ersten Ausgabe der Zeitschrift muß so z.B. die "Radio-Kritik" Angesichts der Programme der laufenden Woche feststellen, daß der Rundfunk nur wenig bereit ist, sich mit den Problemen der Zeit auseinanderzusetzen, daß seine Programme vielmehr in erster Linie aus Musik bestehen. "Musik", so heißt es hier auch einige Wochen später noch, "(…) bis zum Erbrechen und bis zur Gehirnerweichung.":
"Es ist, als ob Musik das Zentrum vorstellt, um das das Leben der Gegenwart kreist. Musik von der Symphonie, dem Kammerkonzert und der Oper bis zum Walzer, Salonstück oder dem Jazz der üblichen Nachmittagskonzerte und der Tanzunterhaltung. Die Welt im Rundfunk kennt keine Probleme des Tages, sie liegt abseits, sie weiß nichts von sozialen und wirtschaftlichen Fragen. (…) Musik bleibt die Hauptsache, aber das Volk will nicht nur tanzen."
Aber auch abgesehen von diesem Übermaß an Musik geben die Programme der deutschen Sender der Zeitschrift oft Anlaß zu grundsätzlicher Kritik; und zwar sowohl in ihren eher künstlerischen, als auch in ihren eher (kultur-) politisch ausgerichteten Teilen.
Schon die eher künstlerischen Programmteile werden hier als völlig unzureichend angesehen, da die gebotenen Kunstwerke meist jeglicher Aktualität und ihre Zusammenstellung in der Pegel jeder Systematik entbehrten, durch die sie zu einem Bildungsmittel für Arbeiterhörer hätten werden können. Statt dessen herrschte eine "fatale Unsicherheit und gänzliche Zerfahrenheit des mehr künstlerischen Programm’s". Es fehle, so Otto Brattskoven im Sommer 1926 mit Bezug auf den Berliner Sender,
"(…) jedes ökonomische Verhalten in Bezug auf den Hörer, jedes Gefühl dafür, was ihm zugemutet werden kann, jedes Maß für richtige Dosierungen."
Im weiteren Verlauf des Jahres wird zudem eine zunehmende Verflachung der künstlerischen Programme wahrgenommen. Vermochte etwa Karl Wilhelm den Sendegesellschaften im Sommer 1926 immerhin noch zugestehen, daß "hier und da" auch "gute" Konzerte, Opern oder Schauspielsendungen übertragen würden, so kann M. Felix Mendelsohn im Frühjahr ’27 nur noch konstatieren,
``(…) daß die Programme von unkünstlerischem Kitsch seichtester Art überladen sind, daß die Heidelbergiaden und Behütdichgottpoeten das Feld beherrschen und daß die Stoßseufzer verdrängter Courts-Mahler-Erotik als Literatur gewertet werden. Daß der traurige ‘Humor’ vollgefressenen, bärtigen Kommunalfreisinns satirischer Zeitspiegel sein soll, und die Plaudereien ‘mondainer’ Damen den werktätigen Frauen Anregung versprechen."
Ähnlich muß einige Ausgaben später auch Braungeestke rückblickend feststellen, daß die Sendegesellschaften zwar anfänglich "geradezu von einem Kulturtaumel" befallen gewesen wären; die kulturellen Darbietungen jedoch schon bald bloßem Kitsch gewichen seien:
"Als einige Wochen lang in allen Literatur- und Musikgeschichten gewühlt war, als Abend für Abend ein wahres Kunstpfingsten, eine Ausgießung des Geistes stattgefunden hatte – da wandte sich plötzlich das Blatt und -hui! – kamen die bekannten Schlagworte vom Gegenteil: populär, bunt, heiter, Brettl, Schallranch, Operette usw. usw. Und wie sie kamen! Tag für Tag, Abend für Abend, und wenn es hoch kam, dann geschah vor Antritt des Weges von Heidelberg bis Barcelona noch ein halbes Stündchen Kammermusik."
Dabei richtet sich die Kritik keineswegs grundsätzlich gegen eine Übertragung von Unterhaltungssendungen. Bemängelt wird jedoch die "gleichgültige Lieblosigkeit", mit der solche Sendungen allenthalben arrangiert seien und durch die Abende leichter Unterhaltung im Radio, so Braungeestke, "im allgemeinen nur eine andere Bezeichnung für den Urlaubsschein aller künstlerischen Kräfte", zu einem "wahren Rundfunkskandal" geworden seien:
``(…) nicht weil sie bunt, nicht weil sie leicht und unterhaltend sind - dies alles mühen sie sich nicht einmal zu sein – sondern, weil sie eine Brüskierung der Hörer bedeuten."
Diese Brüskierung der Hörer ist für die Autoren des NRF ebensowenig ein bloßes Resultat des Zufalls oder des Ungeschicks der Sendeleitungen, wie die fehlende Aktualität und Systematik der künstlerischen Darbietungen. In ihren Augen sind diese Mängel vielmehr ein Ausdruck für die Mißachtung der Sendegesellschaften gegenüber den Interessen der Arbeiterhörer:
"Vor allem ist es der Gedanke, daß schließlich doch – ‘nur Arbeiter’ in erster Linie dieses Zeug verschlucken müssen, das man da unbekümmert verschleudert. In jedem anderen Falle würde schon der Ehrgeiz derartige Demaskierungen verhüten."
Zeigt sich der bürgerliche Charakter des Weimarer Rundfunks für die Autoren des NRF in den künstlerischen Programmen noch eher versteckt, in dem, was ihnen fehlt (wie Zeitbezug, Systematik und Ernsthaftigkeit), so demonstrieren die anderen Programmteile, und hier vor allem das Vortragsprogramm, in ihren Augen nur allzu offensichtlich,
``(…) daß bei den Sendegesellschaften machtbewußt und ungehemmt nur der Wille vorhanden ist, den Massen der Hörer, die mit ihrem Geld den Rundfunkbetrieb unterhalten, die Anschauungen der herrschenden Schichten offen und verhüllt aufzuzwingen."
Nicht nur, daß Militärmusik und Gymnastik den obligatorischen Programmbeginn und das Abspielen der Nationalhymne sein Ende bildeten; immer wieder müssen in der Zeitschrift Sendungen wegen ihres offenen nationalistischen, militaristischen oder auf andere Art reaktionären Charakters angeprangert werden. Anfang 1927 stellt M. Felix Mendelsohn rückblickend fest:
"Wir haben zahllose Fälle nachgewiesen, in denen im Rundfunk offen oder verhüllt reaktionäre Propaganda getrieben, in denen rechtsradikale und monarchistische Agitatoren die Republik verhöhnen, reaktionäre Unternehmensvertreter ihre Ansichten über Sozialpolitik als alleingültig anpreisen und Werbechefs des militaristischen Deutschlands, das uns in Elend getrieben, die kommende Völkerversöhnung zu hintertreiben suchen. (…) Wer unterrichtet uns über die Wesenheit fremder Völker und unsere Beziehungen zu Ausland? Ausgediente Militärs, die mit ihrer gewiß nicht kleinen Pension in der Welt herumreisen und sich dort als Vertreter des Deutschtums ausgeben. Die Berichte, die sie dann im Rundfunk geben, sind auch danach."
Besonders augenfällig wird den Autoren der Zeitschrift diese Tendenz zur "systematische(n) Volksverdummung" bei der Präsentation von Feier- und Gedenktagen im Radio. So waren 1926, wie in den Beiträgen kritisch angemerkt wird, zwar der Jahrestag der Schlacht am Skagerrak oder auch Bismarks Geburtstag für die Sendegesellschaften Anlaß zur Ausstrahlung von Gedenksendungen; Daten, wie der 1. Mai, der 100. Geburtstag Wilhelm Liebknechts, des "Schöpfers der deutschen Arbeitermassenpartei", oder der Jahrestag des Ausbruchs des 1. Weltkriegs wurden von ihnen jedoch ebensowenig zur Kenntnis genommen, wie selbst der Jahrestag der Weimarer Republikgründung.
Überhaupt ist der Weimarer Rundfunk, wie man feststellen muß, nicht gerade ein Freund der deutschen Republik:
"Alles, was nach Republik riecht, wird vom Funkzensor aus den Programmen ferngehalten. Nur wenn, selten genug, ein freier Gewerkschafter am Mikrophon steht, erfahren wir, daß ein 9. November bei uns eine Staatsumwälzung herbeigeführt hat."
Eher schon fände die Kirche in diesem Medium eine "Stütze von gar nicht abzuwägender Bedeutung": Zu Ostern müßten die Radiohörer, wie Kurt Kersten bemerkt, "mit himmlischen Chören den Sieg des Geistes über das Fleisch feiern"; allsonntäglich biete die religiöse Morgenfeier, so die "Radio-Kritik", "inhaltsleeres Pfaffengeschwätz (und) Moralsalbaderei", während von der freireligiösen Bewegung kein Wort zu vernehmen sei; und Otto Brattskoven muß anläßlich der Synode der evangelischen Kirche im Mai 1926 gar wahrnehmen, daß die Kirchen beim Berliner Sender Sendezeit schon regelrecht "kaufen" könnten:
"Es gibt ja auch kein besseres Unterdrückungsmittel der vorwärts marschierenden Arbeiterheere durch das Bürgertum, als wenn die Kirche den Handlanger spielt und mit ihren bewährten Methoden die Verdummung der Massen durch das weitreichende Instrument des Rundfunks auch noch zu betreiben beginnt. Die Folge dieser Einflußgewinnung sieht man schon heute: Nicht nur die politische, wirtschaftliche und geistige Reaktion neben dem ‘heitere Kunst’ genannten bürgerlichen Kitsch wird weiter um sich greifen, sondern auch eine dem Mittelalter entlehnte Inquisition und ein widerliches Muckertum."
Abgerundet wird dieses Bild vom Weimarer Rundfunk als "moderner Kirchenkanzel" für die Autoren der Zeitschrift durch die Erfahrung, daß die Arbeiterschaft und ihre politischen Vertreter in den Programmen weder personell noch inhaltlich angemessen berücksichtigt werden, daß, so Klaus Neukrantz,
``(…) die wesentliche Hauptströmung unserer Zeit glatt unterschlagen (wird und a)lles Sozialistische, Freiheitliche, Fortschrittliche (…) bisher im Rundfunk keinen Platz gefunden (hat)."
Andere Autoren urteilen ähnlich: Im Unterschied zu staatstragenden Ministerialräten, Kirchenfürsten oder Offizieren käme die politische Linke "entweder gar nicht oder nur ganz selten (…) zum Wort". Gegenüber den thematischen Wünschen aus der Arbeiterschaft verhielten sich die Sendegesellschaften "sehr zugeknöpft". Und auch "wissenschaftliche Vorträge vom Standpunkt der Arbeiterbewegung, z.B. über die philosophischen Grundlagen des Sozialismus", so Arthur Crispien auf einer "Rundfunkhörerversammlung" des ARKD im Oktober 1926, "gäbe es nicht". Selbst wenn einmal ein von der Arbeiterschaft geforderter Vortrag auf dem Programm stände, so bedeute dies, wie die Erfahrung die Autoren lehrt, noch keineswegs, daß er auch gesendet würde. Der Vortrag über "Die wirtschaftliche Bedeutung der Konsumgenossenschaft" jedenfalls, der am 30.3.26 vom Dortmunder Sender übertragen werden sollte, fand dann, wie die Zeitschrift berichtet, doch nicht statt – offiziell, "wegen eingetretener technischer Störungen’’, inoffiziell, wie man vom Direktor der Sendegesellschaft erfuhr, wegen eines "ganzen Haufens von Beschwerden von Handels- und Gewerbekammern, Handwerker- und Händlerorganisationen".
Angesichts solch mangelnder Rücksichtnahmen der Sendegesellschaften auf die Interessen der Arbeiterschaft, bei gleichzeitiger "reaktionärer Gehirnverkleisterung" erweist sich das "Gerede vom neutralen Kulturfaktor’’ für die Autoren des NRF als "verlogene Phrase" und bloße "Farce" – als, wie der Leipziger Funkfreund Jacob Blauner schreibt, "Mittel zur Irreleitung":
"(…) der Ausdruck Kulturfaktor soll die Tatsache verstecken, daß Rundfunk ein Machtfaktor ist, den die der Herrschenden richtig, die anderen gar nicht ausnutzen dürfen. Das nenne ich wahre Demokratie, die zum Grundsatz erheben möchte: Was Jupiter erlaubt ist, darf der Ochse nicht (…).’’
Trotz dieses Urteils findet sich in der Zeitschrift jedoch nicht nur Negativkritik an den Programmen. Obwohl sich in ihren Augen hier nur wenig bietet, was eines Lobes wert wäre, zeigen sich die Autoren durchaus bereit, sowohl zwischen den verschiedenen Gesellschaften, als auch innerhalb der Programme zu differenzieren und das wenige Positive auch hervorzuheben Jacob Blauner versucht im Sommer 1926 z.B. eine unterschiedliche Charakteristik der deutschen Rundfunkgesellschaften aufzustellen, wobei in seinen Augen allerdings nur der Leipziger Sender positiv hervorsticht:
"Da ist die Berliner Funkstunde, beherrscht von Alfred Braun, der als treuer Soldat Stresemannischen Volks-Kaisertums stramm nationalen Funk macht Münchens Deutsche Stunde wird wohl nicht zu Unrecht ‘Deutschnationale Stunde’ geschimpft. Stuttgarts Rundfunk arbeitet unter den Fittichen des ‘Deutschtums im Ausland’. Mehr gezwungen, als aus Liebe, macht der Königsberger den Vorposten für Deutschlands ‘nationale Belange im Osten’. Der Breslauer Sender soll demnächst in ein Kloster gehen. Und der Frankfurter steht unter dem Einfluß der ‘Frankfurter Zeitung’. Der Leipziger Rundfunk ist auch kein proletarischer, aber (…) inmitten seiner mehr oder weniger nationalen Kollegen (…) ist er der einzige, der den Arbeiter zu Wort kommen läßt."
Anlaß zu dieser Feststellung sind dabei die vom Leipziger Sender veranstalteten "Volksabende", auf denen, wie Blauner anerkennend feststellt, "fast ausschließlich das geboten wird, was wir proletarische Kunst nennen.". Aber auch ansonsten kommt dieser Sender in den Beiträgen des NRF des öfteren ‘gut weg’: So brachte er, wie die Zeitschrift vermerkt, im April 1926 ein Konzert des Gorbitzer Arbeiter-Mandolinenklubs, nahm am 1. Mai. 1926, wie schon im Jahr zuvor, als einziger Sender im Reich in seinem Programmen Bezug auf die Bedeutung dieses Tages für die Arbeiterschaft; und auch am 5. August, dem Jahrestag des Kriegsbeginns von 1914, wurde hier immerhin die "Friedensnovelle" von Strindberg verlesen.
In den Programmen der anderen Sender finden die Autoren der Zeitschrift hingegen nur selten Lobenswertes, wie etwa den "Arbeiterkunstabend", den der Elberfelder Sender im Sommer 1926 auf Verlangen des dortigen ARKD übertrug, oder eine Reihe von sechs Vorträgen "bekannter Gewerkschaftsführer", die im Frühjahr 1926 vom Berliner Sender ausgestrahlt wurden. Letztere hätten der Sendegesellschaft, wie der NRF feststellt, jedoch "geradezu abgerungen" werden müssen, weshalb ihre Übertragung für die Zeitschrift eher einen Anlaß bietet, darauf hinzuweisen,
"(…) daß die geringe Anzahl der Vorträge in keinem Verhältnis der Bedeutung der Arbeiterschaft als solche, wie auch ihrer zahlenmäßigen Anteilnahme am Rundfunk entspricht."
Auf eine regelrechte Tendenzwende der Berliner ‘Funkstunde’ ließ einige Autoren allerdings der Arbeitsplan hoffen, den diese Gesellschaft im September 1926 für die ‘Spielzeit’ 1926/27 vorstellte. Nachdem im NRF noch kurz zuvor wegen zahlreicher Verletzungen des Neutralitätsprinzips und mangelnder Aktualität seiner künstlerischen Darbietungen heftige Kritik an dem Sender geübt worden war, war der neue Arbeitsplan Otto Brattskoven sogar "als solcher alle Hochachtung wert". Zwar sei die ‘Funkstunde’ "von dem, was die arbeitende Bevölkerung von dem Rundfunk als Kultur- und Bildungsfaktor verlangt, (…) noch immer meilenweit entfernt", aber, so Brattskoven:
``(…) man (hat) sich jetzt darum bemüht, in systematischer Form alles das zusammenzufassen, was heute Musik, Literatur und Wissenschaft als Spitzenleistung gilt und durch den Rundfunk verbreitet werden kann. Alles ist berücksichtigt und mitunter sogar sehr geschickt durch zusammenhängende Veranstaltungen zu einem Ganzen verbunden. (…) es hat sogar den Anschein, daß man trotz aller ‘unpolitischen’ Einstellung einen gewissen und durch zahllose Beschwerden nicht mehr zu vermeidenden Ruck nach ‘ein bißchen links’ durch die Wahl der vortragenden Persönlichkeiten dokumentieren möchte."
Was Brattskoven hier noch sehr vorsichtig formuliert, scheint anderen Autoren zunächst zur Gewißheit zu werden. So stellt Karl Wilhelm z.B. einige Wochen später eine von der ‘Funkstunde’ angekündigte Vortragsreihe "Mensch und Arbeit", die nach Angaben des Senders "in enger Fühlungsnahme mit Verbänden und Vereinigungen der Werktätigen" erfolgen sollte, als "begrüßenswerte Neuerung" vor, der "wir mit einigen Vorbehalten zustimmen können"; und in einer anderen Ausgabe übt ein namentlich nicht genannter Autor sogar Kritik an den Gewerkschaften, die den "neuen Kurs" des Senders nicht genügend auszunützen wußten:
"Der neue Kurs der Berliner Funkstunde ist heute durchaus nicht mehr abgeneigt, den Arbeitervertretern und im besonderen den Gewerkschaftsführern das Mikrophon zum Vortrag einzuräumen. (…) Von offizieller Seite sabotiert man heute keineswegs mehr die Arbeiterschaft, sondern man ist jetzt sogar dankbar, wenn geeignete Vorschläge gemacht werden, an denen man vom reaktionären Standpunkt aus nicht mehr herumkritteln wird."
Wie aus anderen Beiträgen hervorgeht, brachte der "neue Kurs" des Berliner Senders jedoch nur bedingt das, was sich die hier zitierten Autoren von ihm versprachen. Er erwies sich vielmehr als ein Teil einer anderen ,neuen Tendenz’ im Rundfunk, die Julian Borchert noch im Sommer 1926 auch bei anderen Gesellschaften bemerkte. Zwar ließe man jetzt "auch Personen zu Wort kommen, die als politisch radikal gelten", aber:
``(…) sie dürfen nur über ‘ungefährliche’ Themen sprechen! Da ist dann der Schein gewahrt, man kann sich darauf berufen, ‘unparteilich’ zu sein – und der Zweck ist erreicht, die Hörer werden nach wie vor nur in reaktionärem Sinne beeinflußt und bearbeitet."
Ähnlich muß Ende November 1926 auch der Leitartikel der Zeitschrift feststellen, daß die bisher begrüßten Fortschritte in Richtung auf eine Öffnung des Rundfunks für Linke eher ein Zeichen für die Stabilisierung seines bürgerlichen Charakters, als für eine Tendenzwende sei. Es ließe sich nicht mehr leugnen, so heißt es hier:
"(…) daß der Rundfunk nach und nach anfängt ein Gesicht zu bekommen, das in jeder Weise über die Interessen des werktätigen Volkes hinwegzusehen beginnt. Wenn man jetzt nur noch selten mit ausgesprochen reaktionären Vorträgen an die Öffentlichkeit tritt und andererseits durch Heranziehung links orientierter Schriftsteller und Redner sich ein gewissermaßen fortschrittliches Aussehen gibt, so sind gerade diese beiden Tatsachen symptomatisch dafür, daß man stabil geworden ist, daß man System hat und daß die ‘kalte Bourgeoisierung’ des Rundfunks sich durchzusetzen beginnt (…)."
Als Beispiel für die Auswirkungen dieser "kalten Bourgeoisierung", speziell des Berliner Senders wird einige Ausgaben später dann der "Fall" eines Dramatikers vorgeführt, der der Nachwelt zwar eher als Kritiker des Weimarer Rundfunks, denn als dessen Apologet gilt, in dem Walter Baake im Januar ’27 jedoch noch ein "Opfer der Umgarnungstaktik" der Sendegesellschaften erkennen muß -
"(…) ein Beispiel mehr dafür, daß es der Funkokratie immer wieder glückt, mit ihren goldenen Fangarmen ‘kritische Gewissen in den Schlaf zu lullen’."
Gemeint ist Berthold Brecht, der bereits im Mai 1925, im Rahmen eines literarischen Abends der ‘Funkstunde’ erstmals im Radio aus eigenen Werken gelesen und auch Silvester 1926 an der Jahresrevue Larifari des Senders mitgewirkt hatte. Wenige Tage darauf erschien in der Funkstunde, der offiziellen Zeitschrift der Berliner Rundfunkstelle, dann sein Aufsatz "Junges Drama und Rundfunk", in dem er seine bisherigen Erfahrungen mit dem Medium zusammenfaßte. Brecht war hier voll des Lobes über die Möglichkeiten, die jungen, engagierten Dramatikern mit dem Rundfunk geboten würden. Im Unterschied zum "Theater von heute", das deren Stücke oft "bis zur Unkenntlichkeit" entstelle, war das Radio für ihn eine "große, unbelastete, neue Institution", die die bisherige Aufgabe des Theaters, die Kunst zu fördern, "einfach mitübernimmt":
"Deshalb ist der Rundfunk, eine technische Erfindung, die sich das Bedürfnis der Masse erst schaffen und nicht sich einem schon abgenutzten alten Bedürfnis unterwerfen muß, eine große und fruchtbare Chance für unsere Stücke."
Diese Vorstellung vom Rundfunk als "unbelasteter, neuer Institution", die Brecht, übrigens auch in späteren Aufsätzen immer wieder vertrat, mußte im NRF natürlich auf Widerspruch stoßen. Walter Baake fiel bei der Lektüre von Brechts Aufsatz sogar, wie er schreibt, "von einem Erstaunen ins andere", da Brecht hier den Rundfunk ausgerechnet "auf der Eselswiese desjenigen Senders (hofiert), wo ein Alfred Braun das geistige Regiment führt". Und:
"Hat Alfred Braun sich je in nennenswertem Umfang bemüht, die jungen Dramatiker im Rundfunk vor das Volk treten zu lassen? Traut Brecht ihm die Fähigkeit zu, die er im Bausch und Bogen dem Gegenwartstheater zuspricht? An wievielen Sendern, von Berlin ganz zu schweigen, ist denn sein dramatisches, schon recht umfangreiches Werk aufgeführt worden? Und hat Brecht überhaupt je am Radioapparat gesessen und die Rundfunkproduktionen abgehört? (…) Ob das Linsengericht, um das Brecht das Erstgeburtsrecht seiner Unabhängigkeit verkauft hat, lediglich in dem Honorar für seine Silvesterrevue bestanden hat, kann erst die weitere Aufklärung seines Falles ergeben."
Baake geht es hier keineswegs darum, Brecht seine Mitarbeit am reaktionären Rundfunk vorzuwerfen, oder ihn dafür zu tadeln, daß er andere Autoren mit seinem Aufsatz quasi zu solcher Mitarbeit aufruft. Ähnlich wie Brecht einige Jahre später das Radio als möglichen "Kommunikationsapparat" beschreibt, sieht vielmehr auch Baake in dem Medium durchaus Möglichkeiten:
"Gewiß" – so schreibt er – "der deutsche Rundfunk wird einmal die Tribüne werden, von der aus das deutsche Volk durch seine politischen, kulturellen und geistigen Führer zum Wissen geführt wird."
Im Unterschied zu Brecht bedarf es für ihn, ebenso wie für die anderen Autoren des NRF jedoch nicht erst eines groß angelegten "soziologischen Experiments", wie dem Baden-Badener Versuch des "Ozeanflugs", um die bürgerliche Vorbelastetheit des Weimarer Rundfunks zu erkennen. Und, so Baake:
``(…) man beschleunigt nicht die Entwicklung des Rundfunks zu jener Tribüne, die sich wohl auch Brecht wünscht, indem man die Kritik gegen das heutige System und seine Nutznießer für sich behält."
Daß sich Kritik am Weimarer Rundfunk für die Arbeiterfunkfreunde durchaus mit der Bereitschaft zur Mitarbeit an dem Medium vereinbaren ließ, sofern durch solche Mitarbeit den Interessen der Arbeiterschaft Rechnung getragen werden konnte, zeigt auch eine Resolution, die die Berliner Bezirksgruppe des ARKD im Januar 1927 beschloß. Als eines der wenigen Dokumente, in denen sich die Arbeiterfunkfreunde selbst zum Rundfunkprogramm äußern, faßt sie zudem auch die im NRF formulierte Kritik am Programm zusammen und belegt damit, daß zumindest diese den Vorstellungen der Arbeiterfunkfreunde im wesentlichen entsprochen haben muß. Der Wortlaut der Resolution soll hier deshalb vollständig wiedergegeben werden:
"Die am 5. Januar 1927 versammelten Mitglieder und Funktionäre des Arbeiter-Radioklubs Deutschlands wissen sich mit allen Proletariern einig, indem sie folgende Entschließung einstimmig annahmen:
Hunderttausende von proletarischen Hörern, die zum Abhören der Darbietungen der ‘Funkstunde Berlin’ verurteilt sind, protestieren gegen die allzu oft kitschig-reaktionär-parteiische Einstellung der ihr bisher gebotenen Programme, besonders gegen die Verhöhnung des Proletariats am 31. Dezember 1926 durch Otto Reutter.
Die proletarische Hörerschaft fordert die Leiter des Berliner Senders auf, endgültig solche, fast nur unter Schmutz und Schund fallende geistige Einstellung aufzugeben.
Die Bezirksgruppe Berlin des Arbeiter-Radio-Klubs Deutschland e.V. erklärt sich erneut bereit, an der künftigen Programmgestaltung mitzuarbeiten, sobald sie feste Zusagen der Funkstunde A.G. hat, um die Wünsche von 80 Proz. der gesamten Hörerschaft erfüllen zu helfen."
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